Wie entsteht eine Anorexie?
Wie schon erwähnt, entsteht die Erkrankung aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Wenn das Leben unsicher oder überfordernd wird, zum Beispiel in der Pubertät, in einer Krise oder bei starkem Leistungsdruck, entsteht natürlicherweise das Bedürfnis, wieder Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Ein strenges Essverhalten kann dann zu einer Strategie werden, um innere Anspannung oder das Gefühl des Kontrollverlusts vermeintlich zu regulieren.
Anfangs erscheint das restriktive Essen harmlos: Wer weniger isst oder Gewicht verliert, bekommt häufig sogar Anerkennung und erlebt ein Gefühl von Selbstwirksamkeit: „Ich schaffe das.“ Diese positive Rückmeldung kann zur Verstärkung des Verhaltens beitragen.
Wenn Menschen über längere Zeit hungern, passt sich der Stoffwechsel an, um Energie zu sparen und überlebenswichtige Funktionen zu sichern. Diese Anpassungen können dazu beitragen, dass sich die Krankheit verstärkt und aufrechterhält. Durch den Energiemangel sinken die Spiegel wichtiger Hormone und Botenstoffe wie Leptin, Serotonin und Noradrenalin, während Cortisol und teils Dopamin erhöht sind:13
- Leptin, das normalerweise Sättigung signalisiert, fällt stark ab. Das führt paradoxerweise oft zu Ruhelosigkeit und Bewegungsdrang, ein Phänomen, das viele Betroffene beschreiben.
- Der niedrige Serotoninspiegel kann Stimmungsschwankungen, Ängstlichkeit und Zwanghaftigkeit fördern – Symptome, die typisch für Anorexie sind.
- Der erhöhte Cortisolspiegel wirkt wie ein Dauer-Stresszustand. Er kann kurzfristig ein Gefühl von Energie und „Belohnung“ vermitteln, was das restriktive Essverhalten unbewusst verstärkt.
- Gleichzeitig verändert sich das Dopaminsystem, das für Motivation und Belohnung zuständig ist: Hungerphasen und Gewichtsabnahme können kurzfristig positive Gefühle auslösen, ähnlich wie ein „Belohnungseffekt“, der den Kreislauf aus Nahrungsverzicht und Kontrolle stabilisiert.
Durch die neurobiologischen Veränderungen wirkt Hungern kurzfristig belohnend und beruhigend, obwohl es dem Organismus schadet. Das positive Gefühl verstärkt das Verhalten unbewusst und macht es zunehmend schwer, das Essverhalten zu ändern. Der Wunsch nach Kontrolle, Angst vor Gewichtszunahme und die physiologischen Anpassungen verstärken und stabilisieren einander und können in einen Teufelskreis münden. Anorexia nervosa gilt daher heute nicht nur als psychische, sondern auch als metabolisch-neurobiologische Störung.